Ok, jetzt schreibe ich ihn doch. Den Artikel, den ich eigentlich nicht schreiben wollte. Weil ich gehofft hatte, dass Corona und unser Essverhalten keine Langzeitbeziehung eingehen würden.

Ich merke aber in der Arbeit mit meinen Klientinnen, dass ein Gefühl wirklich sehr verbreitet ist. Und zwar das, im letzten Jahr noch weniger Herausforderungen mit dem eigenen Essverhalten und auch mehr Selbstbeherrschung gehabt zu haben.

Dabei geht es hier nicht darum, dass man aufgrund der Quarantäne mehr zu Hause war, Langeweile hatte, das Fitnessstudio geschlossen hatte und man deshalb einfach mehr gegessen hat.

Hier geht es um die Gründe, warum du von innen heraus einen stärkeren Drang zu essen entwickelt hast. Das, was sich anfühlt, wie eine fehlende Selbstbeherrschung, ist in Wirklichkeit ein stärkeres emotionales Bedürfnis, dass du offensichtlich nur mit Essen stillen kannst.

Deine Selbstbeherrschung ist seit 2020 irgendwie flöten gegangen?

Das könnte daran liegen, dass Corona deine Essmuster verschärft hat. Hier sind ein paar tieferliegende Ursachen dafür. Was ist es bei dir?

1 | Das Gefühl von Mangel

Es fing an mit einem Mangel an Desinfektionsmittel und Toilettenpapier, ist aber schnell auch auf viele Grundnahrungsmittel übergegangen.

Wer in dieser Anfangszeit des Lockdown mal in einer dm-Filiale war, hatte Probleme nicht den nahenden Weltuntergang vor Augen zu haben. Kaum ein Fach, das noch voll eingeräumt war.

Da musste man auch nicht unbedingt den letzten Krieg noch miterlebt haben, damit einen diese Bilder berührten.

Dazu gab es über einen relativ langen Zeitraum auch noch den Mangel an persönlichen Kontakten, Austausch mit anderen, guten Nachrichten und damit insgesamt auch guten Gefühlen.

Belastende, unangenehme Gefühle und das diffuse Gefühl einer bevorstehenden Hungersnot können starke Treiber für emotionales Essen sein.

Das ist nichts, was wir bewusst wahrnehmen und schon gar nicht entscheiden. Es beeinflusst aber unser Verhalten - die leergeräumten Regale waren ein deutliches Anzeichen dafür.

2 | Anhaltende Unsicherheit und Kontrollverlust

Lange Zeit wartete man auf die Wende, Entspannung oder zumindest positive Nachrichten. Sie blieben aber aus und es machte den Anschein, als ob die Situation nicht in den Griff zu kriegen sei.

Wer versuchte, durch das ständige Verfolgen der Nachrichten mehr Sicherheit zu bekommen, wurde stattdessen immer weiter verunsichert. Das Gefühl keinerlei Kontrolle über die Situation und das eigene Leben zu haben, hat bei vielen neben dem Essverhalten auch den Schlaf beeinträchtigt.

Man war gezwungen, diese Unsicherheit einfach auszuhalten.

  • Wie lange geht das noch so weiter?
  • Wie wirkt sich diese Phase auf die Wirtschaft aus?
  • Wann ist meine Kurzarbeit beendet?
  • Werde ich meinen Job verlieren?

Bei vielen hält diese Unsicherheit auch jetzt immer noch an. Und selbst wenn man selber nicht direkt betroffen ist, wird man durch sein Umfeld mehr oder weniger stark beeinflusst.

Essen erfüllt häufig die Funktion, dass es uns eine gewisse Stabilität verleiht.

Wir können uns erden, schwerer machen, nicht mehr so leicht umgeworfen werden, wenn wir gut essen.

Dazu kommt, dass man sich beim Essen relativ hochwertige Dinge leisten und sich etwas gönnen kann, ohne dass man gleich finanzielle Risiken eingeht.

Es ist also auch ein wirksames Trostpflaster in finanziell unsicheren Zeiten. Nach dem Motto: Wenigstens haben wir immer noch genug zu essen.

War deine Selbstbeherrschung 2019 noch besser als jetzt? Wenn du seit Monaten ein ständiges Hungergefühl oder Esslust hast, könnten das die unbewussten Gründe sein.

Selbstbeherrschung beim Essen: Merken mit dem Pin auf Pinterest.

3 | Alte und neue Ängste schwächen die Selbstbeherrschung

Ängste in allen möglichen Formen und Schattierungen haben unbewusst auch in ganz entspannten Zeiten, in denen alles geradeaus läuft, einen bedeutenden Einfluss auf unser Essverhalten.

Dazu muss man noch nicht einmal die direkte Angst haben, nicht genug zu bekommen oder zu verhungern. Allerdings ist es in diesen Fällen besonders offensichtlich.

Angst ist ein unangenehmes Gefühl, dass wir nicht spüren möchten. Wir verdrängen es nur zu gerne oder versuchen es zu betäuben. Und dazu ist Essen mal wieder prima geeignet.

Auch die kleine Schwester der Angst, die Sorge, gehört in diese Kategorie von Emotionen. Und auch die hatten Hochkonjunktur in den letzten Monaten. Die Sorge um die eigene Gesundheit, die der Eltern, der Kinder und die Sorge um die Zukunft im Allgemeinen.

Die Tatsache, dass das, was für uns noch vor einem Jahr in einen mittelprächtigen Hollywood-Film gehört hätte, mittlerweile Normalität ist, ist kein Zeichen von Verarbeitung, sondern eher Gewöhnung.

Diese unerwartet lange Phase der Angst und Sorge hat mächtig an unserem Urvertrauen geknabbert. Das verschwindet nicht so schnell wieder von alleine.

4 | Fehlende Ablenkung von der inneren Welt

Man hört jetzt viel darüber, dass während der Quarantäne und "Stay Home"-Phase viel aus Langeweile gegessen wurde.

Ehrlich gesagt, ist mir das Muster „Essen aus Langeweile“ noch nie bei einer meiner Klientinnen begegnet. So einfach sind wir dann doch wieder nicht gestrickt.

Allerdings ist der Zusammenhang auch nicht ganz falsch. Wenn wir nichts zu tun haben oder sagen wir mal - nicht so unter Druck stehen - werden uns unsere Gefühle bewusster.

Wir können nicht mehr weghören.

War deine Selbstbeherrschung 2019 noch besser als jetzt? Wenn du seit Monaten ein ständiges Hungergefühl oder Esslust hast, könnten das die unbewussten Gründe sein.

Und zwar genau die Gefühle, für die wir sonst so gar keine Zeit und Muße haben. Wenn keine Pflichten anstehen, Besorgungen zu machen und Verabredungen einzuhalten sind, kommen die gerne aus der Verbannung zurück und machen sich bemerkbar.

Finden wir dann keine Möglichkeit, uns durch Geschäftigkeit oder selbst erzeugten Stress abzulenken, brauchen wir andere Formen der schnellen Bewältigung.

Ach ja, und auch da leistet das gut alte Essen immer wieder so treue Dienste.  

Je mehr du auch vorher schon gewohnt warst, Zeit mit dir selbst zu verbringen und dir bewusst zu sein, wie du dich fühlst und woher deine Gefühle kommen, desto leichter ist dir wahrscheinlich eine Quarantäne oder soziale Distanz gefallen.

Ach ja, und dann ist da noch der Mundschutz ...

Natürlich ist er lästig und schränkt uns ein und wir würden ihn lieber heute als morgen wieder abschaffen.

Jedenfalls für die meisten von uns, denn es gibt durchaus auch Menschen, denen die Maske in dieser speziellen Zeit ein Gefühl von Sicherheit vermittelt und damit wiederum eine gewisse Freiheit gibt.

Es kann aber auch sein, dass dir das Tragen der Maske das Gefühl gibt, dass dir jemand den Mund zuhält oder die Luft zum Atmen nimmt.

Je nachdem, was du in deinem Leben schon erlebt hast, können da auch durchaus unbewusste Ängste wieder hochkommen.

Die Maske kann für dich einfach nur ein Symbol für Verbote und Mangel sein. Und das kann übrigens auch schon reichen, um dein Essverhalten negativ zu beeinflussen.

Oder sie triggert in dir etwas an, was noch älter ist.

Wenn du beispielsweise - wie einige von uns als Kind - bei deinen ersten Schwimmversuchen mal fast abgesoffen bist, kann dieses Ereignis mit dem Gefühl der Atemnot noch in deinem System gespeichert sein.

Entsprechend schlecht kannst du dieses Gefühl der zeitweisen Atemnot aushalten.

Also, was tun?
 
Auf die Straße gehen und demonstrieren?

Das wird an dieser Speicherung nichts ändern. Muster lösen sich dadurch leider nicht.😉

Es war schon vor dieser Ausnahmesituation da und wird es nachher auch noch da sein. Corona hat das Muster nur spürbar gemacht. Und allenfalls weiter verstärkt.

Wenn du jetzt allerdings das Gefühl hast, eine Diät oder Ernährungsumstellung könnte die Lösung für die überflüssigen Corona-Pfunde sein, empfehle ich dir nach einem anderen Ansatz zu suchen.

Warum das nichts bringt, wie es sich auf deine Selbstbeherrschung auswirken könnte und welche Alternativen es gibt, liest du in diesem Artikel.

Auf diese Art von Stress mit einer Diät zu reagieren, führt mit größter Sicherheit zu noch mehr Stress in deinem Leben. Auf jeden Fall fühlst du dich am Ende noch elender und deprimierter und das braucht zurzeit wirklich niemand.

Weil du emotionalen Mangel nicht mit noch mehr Mangel bekämpfen kannst, sind hier drei Schritte, mit denen du entspannt beginnen kannst.

Kleine Schritte, die dir das Gefühl der Selbstbeherrschung wieder bringen.

1 | WARUM ist das passiert?

Kümmere dich nicht darum, wie viel du gegessen hast oder ob es ungesund, schädlich, verboten oder sonst was war.

Frage dich lieber

  • WARUM habe ich anders oder mehr gegessen?
  • In welchen Situationen genau?
  • Was habe ich vorher gedacht oder gemacht?
  • Wie habe ich mich dabei gefühlt?

Achte dabei besonders auf den Zusammenhang von Unsicherheit, Angst oder Mangel mit einem entstehenden Hungergefühl.

Wenn es eine Herausforderung für dich ist, deine unbewussten Gefühle zu erkennen, hilft dir mein Heißhunger Selbsttest vielleicht herauszufinden, was genau deinen Heißhunger antreibt.

Du bekommst zusätzlich meine regelmäßigen Augenöffner direkt in dein Postfach.

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2 | Wie kann ich das für mich selbst tun, was Essen für mich tut?

Das WARUM ist dir klar?
 
Okay, dann kann es weitergehen.

Das funktioniert allerdings nur, wenn du den ersten Punkt nicht schlabberst. Wenn du keine Zeit oder Lust hast, dich damit auseinanderzusetzen, weißt du nämlich nicht, wo genau du ansetzen musst.

Dann hast du keine Ahnung, welches Werkzeug du brauchst.

Ein Hammer ist ein tolles Werkzeug, aber wenig hilfreich, wenn du eine Dose Kichererbsen öffnen willst.

Wenn du Stress hattest, einen harten Tag verdauen musst oder Erholung brauchst, sei freundlich und mitfühlend mit dir selbst.

Finde heraus, was genau du wirklich brauchst und was dir dieses Gefühl geben würde.

Voraussetzung dafür ist, dass du dich regelmäßig fragst, wie du dich fühlst. Hast du das bisher nicht getan, fang jetzt damit an.

Verbringe Zeit mit dir selbst. Mache einen Spaziergang, meditiere, komme zur Ruhe. Finde heraus, wie du darauf reagierst und was dir guttut.

3 | Welche alten Gewohnheiten kann ich wieder aufnehmen?

Finde heraus, ob es Gewohnheiten oder Abläufe gibt, die du in den letzten Monaten verändert hast.

Damit meine ich eher nicht so etwas wie „nicht mehr zum Sport gehen“. Für solche Tipps braucht man keinen Blogartikel.

Vielleicht hast du aber bestimmte Lebensmittel eingekauft, um dir in der unsichersten Zeit etwas Gutes zu tun, weil es sonst nicht so viel davon gab.

Oder aus einem Eis am Nachmittag sind drei zu jeder Tageszeit geworden, weil es ja sonst keine Highlights gab.

Und das Phänomen „was im Haus ist, ist auch ruckzuck wieder weg“ spielt da auch mit hinein. Bei manchen Dingen reicht es, sie einfach nicht mehr verfügbar zu haben. Dann reichen vielleicht auch ein paar Trockenfrüchte oder Nüsse.  

Du kannst dir aus diesen Gewohnheiten auch selbst wieder heraushelfen, indem du dir vornimmst, nicht mehr zwischendurch und unachtsam zu snacken. Und stattdessen immer im Sitzen vom Teller zu essen.

Das gibt dir die Zeit zu realisieren, was du da tust, wie groß die Portion ist und ob du überhaupt Lust darauf hast. Oder es am Ende nur ein Mittel zum Zweck ist.

Achtsames Essen zu praktizieren und mit voller Aufmerksamkeit genießen, statt zwischendurch in der Küche eine Handvoll irgendetwas in den Mund zu werfen, kann auf jeden Fall ein neuer Anfang sein.

Nimm Veränderungen vor, mit denen du langfristig leben kannst und die nicht zu einem Mangelgefühl bei dir führen.

Emotionales Essen lässt sich nicht über reine Selbstbeherrschung bei der Ernährung beheben, egal wie gut und vernünftig der Plan dahinter ist.

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Martina Aust
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  1. Danke für das im Erinnerung rufen, welche Empfindungen aus der Vergangenheit das gegenwärtige Essensmuster mitprägen. Mir hat geholfen, Naschereien und fertige Nahrungsmittel nicht mehr einzukaufen. Als Rentnerin lernte ich zu kochen, mir mittags eine Mahlzeit mit frischem Gemüse zuzubereiten. Ausgenommen bei einer Einladung esse ich nach 18 Uhr nicht mehr. So habe ich während Covid-19 ein wenig an Umfang verloren, so dass ich wieder in alte Kleidungsstücke passe. Das will ich fortsetzen. Danke für Ihren hilfreichen Blog.

    1. Sehr gerne, Milena. Und Glückwunsch, dass Du für Dich einen Umgang mit den Herausforderungen gefunden hast, der nicht zu Mangelgefühlen führt. Liebe Grüße Martina

  2. Der Artikel trifft voll ins Schwarze und ist sehr hilfreich! Vielen lieben Dank!

    Während ich im Januar meine Reise ins Intuitive Essen begonnen habe und alles völlig okay war, hat mich der Lockdown und vor allem die Corona-Lockerungen danach (gefühlt stündlich eine neue Regelung die es zu beachten gilt) total gestresst und durcheinander gebracht. Kaum hatte ich Urlaub, schaltete sich wieder dieses „so, mach mal ne Pause und gönn dir was“- Muster ein und zack! Die Hose zwickt wieder.
    Is mir aber egal, ich versuche auf Entspannung zu achten. Mein Körper war im Stress und brauchte anscheinend ein Energiepolster. Jetzt taste mich seit ein paar Monaten nun wieder langsam an meine Ess-Normalität heran in dem ich das Ganze reflektiere.

    1. Danke, dass Du Deine Erfahrung hier teilst, liebe Claudia. Die letzten Monate waren nicht ohne und es ist wichtig zu wissen, warum auch unser Essverhalten beeinflusst wurde. Das ist völlig normal. Gut, dass Du dabei so liebevoll mit Dir selbst umgehst. Liebe Grüße Martina

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